Du betrachtest gerade Vom Wert historischer Kenntnisse: Rezension zu Günter Verheugens und Petra Erlers Sachbuch “Der lange Weg zum Krieg”

Vom Wert historischer Kenntnisse: Rezension zu Günter Verheugens und Petra Erlers Sachbuch “Der lange Weg zum Krieg”

Wenn ein Buch zur Zeitgeschichte, das im Mai 2024 erschien, bereits sieben Monate später in siebter Auflage vorliegt, muss es ins Schwarze getroffen haben. Das gilt umso mehr, wenn es gegen den herrschenden Zeitgeist geschrieben wurde. Bevor darauf eingegangen wird, sind zwei Gedanken hilfreich. Erstens zur im deutschen Westen verbreiteten Russophobie vieler Menschen. Das Ende des Zweiten Weltkrieges erlebte dieser Landesteil deutlich anders als der Osten. Als Befreier galten Amerikaner, Briten und so weiter. Die entsetzlichen Leiden an der Ostfront gelangten niemals ins öffentliche Bewusstsein. Die unentwegte kulturelle Beeinflussung seitdem in Sinne des American Dream tat ein Übriges. Kaum ein Westdeutscher dürfte jemals einen sowjetischen bzw. russische Film gesehen oder ein Buch gelesen haben (generell betrifft das auch ganz Ost- und Südosteuropa). Östlich von Elbe und Werra sowie des Neusiedler Sees begann für die allermeisten Westdeutschen die historische, kulturelle und politische Terra Icognita. Zweitens steht die Frage im Raum, warum das Fach Geschichte im Bildungssystem eine derartige Nebenrolle spielt. Geschichte ist das Webmuster der menschlichen Gesellschaft in der Zeit. Unter kulturellen, militärischen, ökonomischen sozialen Aspekten und so weiter. Sie ist keine zufällige Anhäufung von Ereignissen, sondern folgt bestimmten Mustern. Diese zu kennen erlaubt die Fortschreibung des Erlebten aus der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft. Und sie liefert Beispiele für mögliche Lösungen und Irrwege. Genau das aber ist von den Eliten nicht gewollt; jeder Tag kommt ohne Vorgeschichte aus, fällt gleichsam vom Himmel. Im Ergebnis beider Aspekte liegt das Wissen um den Ursprung und Rahmen des Konfliktes in der Ukraine sowie möglichen Lösungen in den meisten westdeutschen Köpfen nahe oder exakt bei Null. Erst das Nichtwissen in Verbindung mit der unterschwelligen bis offenen Russophobie ermöglicht die einseitige Darstellung eines „russischen Angriffskrieges“. Die Rollen der Guten und der Bösen sind dabei unter Ausblendung aller gegenteiligen Fakten fest verteilt.

Schon der Buchtitel stellt sich diesem ahistorischen Muster entgegen. Weil ein langer Weg in einen Krieg etwas anderes besagt als ein plötzliches und unerwartetes Ereignis. Zugleich sind an einem langen Weg stets mehrere Akteure beteiligt. Was dem gesunden Menschenverstand geläufig ist, nicht aber dem medialen und politischen Mainstream. Besser: die eigene Mitschuld ist einem Teil des Mainstreams schon geläufig, um aus Kalkül, von vornherein die Opferrolle zu besetzen, nicht formuliert zu werden. In den neun Kapiteln – darunter unter anderem zum Charakter des Krieges als Stellvertreterkrieg, zum langen Weg dahin und zur Rolle der Bundesrepublik – analysieren die beiden Autoren die Entwicklung seit 1990. Mit Blick auf den obigen Gedanken zur Geschichte erschließt sich das Webmuster: der permanente Konflikt des Westen mit Russland nach dem Ende des Kalten Krieges. In diesen dreieinhalb Jahrzehnten lehnte der Westen (konkreter formuliert: die US-Eliten samt deren Vasallen in weiteren Ländern, Großbritannien traditionell vorweg) sämtliche russische Vorschläge zur Entspannung der Situation ab. Einschließlich des Beitrittsgesuches zur NATO. Wie zuletzt noch im Dezember 2021 geschehen – der Krieg in der Ukraine hätte nicht zu sein brauchen. „Worum es politisch immer noch ging, ist in aller Deutlichkeit einem britischen Dokument zur ersten Osterweiterung der NATO zu entnehmen: Man wolle die USA n Europa, die Deutschen nieder und Russland außen vor halten, auch wenn sich im britischen Papier die Bemerkung findet, dass es nicht mehr opportun sei, das auszusprechen.“, so die Autoren (Seite 62). Die Entspannungspolitik der 70er und 80er Jahre wurde ersetzt durch eine der Konfrontation. Denn der Konflikt war gewollt und so gilt der Satz des italienischen Staatsrechtlers Niccolò di Bernardo dei Machiavelli (1469 bis 1527, Hauptwerk: „Der Fürst“ 1513/32), demzufolge nicht der der Schuldige sei, welcher die Waffe zuerst gezogen, sondern Derjenige, der dazu provoziert habe. In dem Zusammenhang weisen die Autoren auf die USA hin, die nach dem Ende des Kalten Krieges nach und nach sämtliche Abrüstungsvereinbarungen wie die ABM-, INF- und Open Spy-Abkommen aufkündigten. Glaubt man aber dem hiesigen Mainstream, war es stets „der Russe“. Die Russische Föderation setzte lediglich den START-Vertrag aus; eine Kündigung erfolgte bis heute nicht.

Verheugen und Erler zeichnen den jahrzehntelangen Weg in den Krieg nach. Ein Krieg, dessen Konsequenzen heute unabsehbar sind. Was die Eliten des Westens antrieb und antreibt, diesen Weg zu gehen, ist nicht mehr Thema des Buches. Warum also die mehrfachen Erweiterungen der EU und der NATO immer weiter an die jetzigen russischen Grenzen heran? Begleitet von einem medialen Feuerwerk gegen die einzige Siegermacht des Zweiten Weltkrieges, die danach abzog und den Weg für die deutsche Vereinigung frei machte. Die tiefste Antwort auf die globalen Geschehnisse seit dem Ende des Kalten Krieges liegt in einem Zitat von Madeleine Albright, von 1997 bis 2001 Außenministerin der US-Regierung unter Bill Clinton: „Russlands Bodenschätze sind zu gewaltig, als dass sie den Russen allein gehören dürfen!“ (Übrigens gilt das im Grundsatz für China und weitere unbotmäßige Staaten genauso). (1) Hier knüpft die Äußerung des deutschen Kriegstreibers Roderich Kiesewetter (CDU) 2023 an, die EU benötige dringend die beachtlichen Lithiumvorräte der Ukraine, was ein militärisches Eingreifen rechtfertige. Dummerweise ist die Russische Föderation militärisch zu stark und innenpolitisch zu gefestigt für eine weitere Farbrevolution. Verheugen und Erler zu diesem Punkt: „Zur Überraschung aller und zum äußersten Missvergnügen einiger schaffte Putin das scheinbar Unmögliche. Er hielt das Land zusammen, wies die russischen Oligarchen in die Schranken, beendete die völlig ungebremste Ausplünderung Russlands und konzentrierte sich darauf, Russland nach innen Stabilität zu geben und nach außen russischen Interessen Geltung zu verschaffen. Unter Putin kam es zu einer kontrollierten Systemtransformation, die die Fehlentwicklung der Jelzin-Ära korrigierte. Sie folge jedoch nicht mehr dem Muster der IWF-Verordnungen oder den Ratschlägen von Harvard-Ökonomen wie in den 90er Jahren.“ (Seite 121) Also bedurfte es eines zum Kriege willigen Stellvertreters, der 2014 auf dem Maidan installiert wurde. Diese Installation (man sollte besser von einem Putsch schreiben) war den USA so wichtig, dass dafür rund 5 Milliarden US-Dollar aufgewendet wurden. (2) Danach mutierte die Ukraine innenpolitisch de facto zu einem US-Protektorat unter Duldung einiger ukrainischer Oligarchen. Warum das potenziell so reiche aber heruntergewirtschaftete Land (nach dem jährlichen pro-Kopf-Einkommen vor Kriegsbeginn etwa 4.600 US-Dollar und damit das ärmste europäische Land, Quelle: Wikipedia) die nach der russischen Armee zahlenmäßig stärksten Streitkräfte in Europa aufbaute, ist ein weiterer Fingerzeig zum Charakter des Krieges als Teil einer größeren, globalen Konfrontation. (3)

Insgesamt beweisen die beiden Autoren umfassende Kenntnisse des Themas. Der Stil ist flüssig und kommt ohne Fachchinesisch aus. Die Abschnitte sind leserfreudig knapp gehalten, gehen dennoch immer wieder tief in die Details und sie stehen zueinander in logischer Zuordnung. Das Quellenverzeichnis lässt keine Wünsche offen. Das Buch hat jedenfalls das Zeug zum Standardwerk; dringend nötig ist es in der heutigen Situation allemal. Ein weiterer Garant für Stimmigkeit ist die Biografie der beiden Autoren. Der Westdeutsche Günter Verheugen war ab 1978 Generalsekretär der FDP, wechselte 1982 zur SPD und brachte es bis zum EU-Kommissar (ab 1999) sowie zum Vizepräsidenten der EU-Kommission (ab 2004). Seite Co-Autorin, die Ostdeutsche Petra Erler, begleitet ihn als Beraterin seit 1999. Unterm Strich also ein „Sehr Gut“ doch ganz ohne Kritik geht es auch hier nicht: Ein Personennachweis hätte dem Buch angesichts des überbordenden Personentableaus noch mehr Praktikabilität verliehen.

Unter einem juristischen Aspekt gewinnt Verheugens und Erlers Buch ebenfalls an Gewicht. Seit einiger Zeit geht die Ampel dazu über, die historischen Fakten zu leugnen und deren korrekte Nennung unter Strafe zu stellen. Hier sei stellvertretend die Behauptung genannt, die Russische Föderation habe im Frühjahr 2022 die Gaslieferungen nach Westeuropa eingestellt. Dabei ist das Gegenteil richtig; der Bundesregierung konnte es damals gar nicht schnell genug gehen mit der Verweigerung des Bezugs von „Aggressorengas“. Darüber hinaus bot die russische Regierung mit Stand Oktober 2024 bisher zweimal an, über den verbliebenen Strang von Nordstream II weiterhin Gas zu liefern. Die Bundesregierung lehnte ab. (4) Es dürfte folglich spannend zu sehen sein, wie die Strafandrohung einer Leugnung des „Russischen Angriffskrieges“ in einem künftigen Verfahren unter Zuhilfenahme der im Buch dargestellten Fakten verläuft. Dass sich diese Strafandrohung nur auf den „Russischen Angriffskrieg“, nicht aber auf die der USA und/oder NATO beziehen dürfte, mag im Lichte der jüngsten Entwicklung nicht überraschen. (5) Einmal mehr gilt, dass westliches Tun und dadurch verursachte (zivile) Opfer sakrosankt sind, aber dasselbe Tun Anderer verurteilungswürdig.

Nach der Lektüre versteht der Leser das Grundmuster der europäischen Geschichte nach 1989: die unaufhörliche Konfrontation des Westens mit der Russischen Föderation. War diese schwach wie in den Jahren unter Boris N. Jelzin, bedurfte es für die bis 2020 fünf Erweiterungsrunden der NATO der angeblichen Gefahr aus russischer Schwäche. Wurde diese wieder stark wie unter Wladimir W. Putin, musste die Bedrohungslüge einer angeblichen Gefahr aus Stärke, kombiniert mit der ewigen Geschichte von „den Menschenrechten“, herhalten. Dabei wurde die in den 2+4-Verhandlungen 1990 erreichte Vereinigung von BRD und DDR wesentlich durch die mündliche Zusage des Westens gesichert, auf eine Osterweiterung der NATO zu verzichten (die Tatsache, dass Michael S. Gorbatschow damals nicht auf einer schriftlichen Zusage bestand, wurde und wird ihm bis heute in Russland zu recht massiv angelastet). Als Konsequenz tobt rund 30 Jahre später in Europa ein Stellvertreterkrieg zwischen der Russischen Föderation und den USA nebst NATO, die den Degen in ihrer, mit einem blau-gelben Handschuh getarnten Hand, führen.

Zum Zeitpunkt des Verfassens dieser Rezension war nicht ersichtlich, welchen weiteren Verlauf der Konflikt in der Ukraine nehmen wird. Werden die westlichen Eliten den russischen Widerstand gegen eine Mitgliedschaft der Ukraine in einem westlichen Militärbündnis akzeptieren und ihre Vermögenswerte in der Ukraine ganz oder teilweise abschreiben? Oder wird der Konflikt weiter geführt, notfalls mit eigenen Soldaten als boots on the ground? Entscheidend wird die Antwort davon abhängen, ob und wie es der westeuropäischen Friedensbewegung gelingt, den Kriegstreibern und ihren profitgeleiteten Hintermännern in den Arm zu fallen. Für diesen Profit Anderer sind schon zu viele junge Russen und Ukrainer gefallen. Die Ukraine selbst – und das ist die wirkliche Tragödie – ist dabei nurmehr Verhandlungsmasse.

Michael Heß

Günter Verheugen und Petra Erler
Der lange Weg zum Krieg, Sachbuch, Heyne-Verlag (Penguin), München 2024
Preis: 24,00 Euro, 336 Seiten
ISBN 978-3-453-21883-3

(1) Die amoralische Denkweise dieser Eliten unterstreicht die ebenfalls Albright zugesprochene Äußerung, die 500.000 toten irakischen Kinder in Folge der Sanktionen nach dem ersten Golfkrieg 1991 seien es wert gewesen (gemeint ist der Erfolg der US-Politik und militärischen Aggression gegen den Irak). Später meinte Albright, diese Äußerung sei angesichts ihrer öffentlichen Folgen ein politischer Fehler gewesen. Zum Bedauern der toten Kinder reichte es dagegen nicht.

(2) Die Zahl entstammt einem abgehörten Telefonat zwischen der damaligen US-Residentin in Kiew, Victoria Nuland („Fuck the EU“, später stellvertretende US-Außenministerin), und dem Botschafter der USA in Kiew. Sie wurde nach Bekanntwerden niemals korrigiert oder anderweitig in Abrede gestellt.

(3) Die zahlenmäßige Stärke der ukrainischen Streitkräfte unmittelbar vor Kriegsbeginn zu ermitteln ist nicht einfach. Diverse Quellen berichten von bis zu 700.000 Mann einschließlich der Territorialkräfte. Die bei Wikipedia genannten sehr viel niedrigeren Zahlen können getrost als falsch eingestuft werden. Zudem fällt dort das weitgehende Fehlen von Zahlen für den Zeitraum des Aufbaus zwischen 2014 und 2022 auf.

(4) Zu erinnern ist auch an den Grund für den Bau von Nordstream I und später Nordstream II: der wiederholte Diebstahl des für Westeuropa bestimmten Gases in Milliardenhöhe durch die damaligen ukrainischen Regierungen wie bsw. unter der Ministerpräsidentin Julia Timoschenko in der zweiten Hälfte der Nullerjahre.

(5) So werden die Angriffskriege der USA und NATO gegen Jugoslawien 1999 (der erste Krieg in Europa nach 1945 und unter aktiver Beteiligung der Bundeswehr) sowie gegen den Irak 2004 sowie Libyen 2011 in der deutschen Politik und in den Medien zumeist als gerechtfertigt dargestellt. Eine völkerrechtliche Grundlage hatten alle drei Konflikte nicht, sondern basierten auf Lügen wie der angeblichen Ermordung von albanischen Säuglingen durch Serben oder der Besitz von Massenvernichtungswaffen im Falle des Iraks und Libyens. Ganz aktuell steht für diese Doppelmoral die Darstellung des Angriffskrieges Israels gegen den Libanon. Auch dieser entbehrt jeglicher völkerrechtlichen Grundlage.

P.S. Der nachfolgende Link führt zu einem rund vierundsiebzigminütigen Interview des Publizisten Michael Holmes (Nachdenkseiten) mit den beiden Autoren.