Werte Leser,
seit einigen Tagen sendet die Bezirksregierung Münster und ihr Regierungspräsident, Andreas Bothe, den Bürgern folgende Botschaft durch ein Plakat am Hauptgebäude Domplatz (siehe Foto):
„Und wir haben das Recht, ja die Pflicht, solidarisch [mit Israel] zu sein.“ — Andreas Bothe
Kommt Ihnen an der Formulierung etwas bekannt vor, werte Leser?
„Wir“, „Pflicht“, „solidarisch“.
Die Begriffe haben Sie sicherlich in den letzten Jahren häufiger gehört.
Die Begriffe entspringen keiner Emotion und keinem spontanen Einfall. Was in der Corona-Zeit mit der Verpflichtung des Bürgers zur Solidarität im Kampf gegen das Virus eingeübt wurde, hat seine Weiterentwicklung in der Verpflichtung des Bürgers zur Solidarität mit der Ukraine und nun in der Verpflichtung des Bürgers zur Solidarität mit Israel erfahren. Es ist eine Formulierung, die einer autoritären Kommunikationsstrategie folgt, und sie ist nicht nur eng mit dem Innen- und Außenministerium Deutschlands, sondern auch mit den Nato-Partnern und in erster Linie mit der US-amerikanischen Regierung abgestimmt. Neben dem obligatorischen Zweck des Machterhalts an sich dient die Kommunikationsstrategie dazu, Mehrheiten für militärische Ziele herzustellen und zu organisieren. Meines Erachtens ist diese Kommunikationsstrategie daher dem Feld der Kriegsführung zuzuordnen.
Die Kommunikationsstrategie versucht für diesen Zweck, die Bürger sprachlich, emotional und rational mit der Regierung in einer „Wir“-Gruppe zu verschmelzen. Das „Wir“ induziert die sprachliche Verschmelzung, die „Pflicht“ induziert die emotionale Verschmelzung und die „Solidarität“ induziert die rationale Verschmelzung. Ohne Zweifel hat diese Kommunikationsstrategie etwas Infantiles und dennoch oder gerade deshalb ist sie wirkungsvoll. Der Staat spricht mit erwachsenen Bürgern wie mit Kindern und drängt sie damit wieder in die Rolle leicht beeinflussbarer Kinder, deren Wunsch nach Gruppen- und Familienzugehörigkeit sehr stark und deren Wunsch nach Autonomie und Selbstbestimmung weniger ausgeprägt ist.
Das möglicherweise positive „Wir“-Gefühl durch die Gruppenzugehörigkeit sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die „Wir“-Gruppe weder eine demokratische noch eine bürgerliche Partei ist. Vielmehr ist sie in ihrer jetzigen Ausgestaltung eine strikt hierarchisch organisierte Gruppe, in der die oben genannten Autoritäten die Ziele vorgeben. Das heißt, wer sich durch Bekenntnis und Ritual in die „Wir“-Gruppe einfügt oder wer aus Angst vor Repressionen beitritt, hat weder Mitspracherecht bei der Zielformulierung noch ist sein selbstständiges und kritisches Denken erwünscht — ganz im Gegenteil. Die Schaffung einer folgsamen Mehrheit und die Verminderung einer kritischen und mündigen Bürgerschaft ist ein wichtiges Ziel dieser Kommunikationsstrategie, um Handlungsfähigkeit und Gestaltungsfreiheit für militärische und außenpolitische Aufgaben herzustellen. Ich bin daher skeptisch, dass sich die Gruppenzugehörigkeit zu dieser „Wir“-Gruppe als langfristig lohnenswert für kritische und mündige Bürger herausstellen wird. Zumal sich gezeigt hat, dass die „Wir“-Gruppe bisher wenig substantielle Erfolge bei der Erreichung von Zielen vorweisen kann, und daher eine zunehmende Radikalisierung dieser Gruppe nicht unwahrscheinlich ist.
Auf der anderen Seite erscheint es mir als kritischem Bürger auch nicht klug zu sein, mich in die Rolle eines Fundamentaloppositionellen zu begeben. Daher versuche ich, mich auf die konkreten Ziele der derzeitigen „Wir“-Gruppe zu konzentrieren und eine Meinung dazu zu entwickeln, auch wenn ich mich von der autoritären und zunehmend radikalen Kommunikationsstrategie abgestoßen fühle. Wie kann das aussehen? In dem konkreten Fall habe ich dem Regierungspräsidenten Andreas Bothe und der Pressestelle der Bezirksregierung Münster zwei Fragen gestellt, um mehr über die Absichten und Ziele der „Wir“-Gruppe zu erfahren:
- Gibt es eine schriftliche Erläuterung der Bezirksregierung Münster zu dieser Stellungnahme, die Ihre Position zu Israel und den aktuellen militärischen Konflikten im Nahen Osten sowie Ihre Position in der politischen Auseinandersetzung zwischen pro-palästinensischen und pro-israelischen Bürgern hierzulande und insbesondere im Regierungsbezirk Münster ausführt und konkretisiert?
- Welche konkreten Maßnahmen plant die Bezirksregierung Münster vor dem Hintergrund Ihrer Stellungnahme?
Hier die Antwort des Regierungspräsidenten:
„Sehr geehrter Herr Hartermann,
die Solidarisierung mit Israel ist für mich und meine Behörde eine Selbstverständlichkeit. Zum Ausdruck bringen wir dies unter anderem mit dem Hissen der Israel-Flagge vor unserem Hauptgebäude am Domplatz in Münster, mit der wir nicht zuletzt auch den empfehlenden Erlass des Innenministers NRW umgesetzt haben.
Als Landesbehörde stehen wir zudem natürlich auch zu der Haltung der NRW-Landesregierung. Hier hat jüngst Ministerpräsident Hendrik Wüst in einer Erklärung verlauten lassen, dass unsere uneingeschränkte Solidarität den Menschen in Israel gelte. Dazu stehe auch ich und damit auch meine Behörde.
Mein persönliches Engagement im Bereich des Antisemitismus habe ich zuletzt auch mit meiner Teilnahme an der Kundgebung “Gegen jeden Antisemitismus – Never again is now” in der Münsteraner Stubengasse am 21. Oktober nochmals unterstrichen.
Um diese Haltung auch in der Bildung weiterzugeben, hat die Bezirksregierung Münster u. a. den Schülerwettbewerb SHALOM initiiert. Außerdem unterstützen wir die Arbeit in den Schulen des Bezirks mit einer “Handreichung Antisemitismus”, die wir für die Schulen erstellt haben. Zu diesen Themen empfehle ich Ihnen die beiden folgenden Links:
https://www.bezreg-muenster.de/de/shalom_schuelerwettbewerb/index.html
Im Übrigen verweise ich Sie gerne auf die Pressemitteilungen meines Hauses zu diesem Thema, die Sie allesamt auf der Homepage der Bezirksregierung Münster finden können.
Mit freundlichen Grüßen,
Andreas Bothe“
Meines Erachtens unterstreicht die Antwort den oben beschriebenen, radikalen Kommunikationsstil der „Wir“-Gruppe, indem die Botschaft bzw. das Bekenntnis nicht nur schlicht wiederholt, sondern durch die „uneingeschränkte Solidarität“ weiter radikalisiert wird. Welche Ziele und Konsequenzen diese radikale Botschaft hat, wird gegenüber dem Adressaten, sprich dem Bürger, nicht kommuniziert. Gilt die „uneingeschränkte Solidarität“ mit Israel für die Mitglieder der „Wir“-Gruppe noch, wenn die israelische Regierung beschließt, Millionen Palästinenser zu vertreiben? Gilt die „uneingeschränkte Solidarität“ mit Israel für die Mitglieder der „Wir“-Gruppe noch, wenn die israelische Regierung beschließt, den Tod zehntausender Zivilisten zur Erreichung militärischer Ziele in Kauf zu nehmen? Ich hoffe, nicht. Das wäre ja völliger Irrsinn. Der folgende Verweis auf Aktionen gegen „Antisemitismus“ ist nicht mehr als eine schwach schimmernde Nebelkerze, um die Aufmerksamkeit von dem klaffenden Nichts, das die Antwort des Regierungspräsidenten durch die fehlende Erläuterungen zu seiner radikalen Botschaft hinterlässt, abzulenken. Ich denke, weder pro-israelische noch pro-palästinensische noch pro-deutsche noch pro-westfälische Bürger können mit dieser infantilen Antwort und Botschaft zufrieden sein. Vielleicht ist es ja die amerikanische Regierung.
Bleiben Sie achtsam, werte Leser!
Bleiben Sie Bürger!
Bleiben Sie Mensch!
Herzliche Grüße,
Dr. Matthias Hartermann