Werte Leser,
ich nehme mir die Freiheit, ein wenig über Wissen, Erkenntnistheorie, Wissenschaft und aktuelle Politik im Lichte der Aufklärung (genauer: Schopenhauers Dissertation) zu reflektieren.
Entschuldigen Sie den nachfolgenden, etwas sperrigen Einstieg. Er scheint mir aber wichtig zur Begriffs- und Standortbestimmung zu sein.
Los geht es ….
Offensichtlich wissen wir weniger als wir glauben zu wissen.
Wenn wir uns die Mühe machen dasjenige Wissen, das wir unmittelbar durch unsere Sinne und persönlichen Erfahrung erworben haben, also das Wissen, das wir Erfahrungswissen nennen, und dasjenige Wissen, das wir nicht durch unser Sinne unmittelbar erworben haben, also das Wissen, das wir aus Erzählungen im weitesten Sinne aus bildlichen, schriftlichen und mündlichen Quellen aufnehmen und Glauben — oder zur Verdeutlichung hier Glaubenswissen — nennen, getrennt zu betrachten, stellen wir fest, dass wir durch und durch Glaubenswissen in vielen Angelegenheiten haben, die weit über jene hinaus gehen, die allgemein als religiöse Angelegenheiten bezeichnet werden.
Unsere Fähigkeit, Wissen in unserem Gedächtnis vorzuhalten und abzurufen, ist lebensnotwendig, ebenso wie unsere Fähigkeit, die wir Verstand nennen, in dem Wissen, Ursache und Wirkung, mit einem Wort Kausalität, zu erkennen. Unsere Fähigkeit, die wir Vernunft nennen, das Wissen systematisch zu untersuchen und mit Begriffen zu beschreiben und zu abstrahieren, Verbindungen und Verhältnisse zwischen Begriffen herzustellen und Wahrheit darin zu finden, ist hingegen nicht unbedingt eine lebensnotwendige Fähigkeit, aber doch ist sie in evolutionärer und gattungsspezifischer Hinsicht überaus vorteilhaft, so dass sie bei allen Menschen mehr oder minder ausgeprägt vorhanden ist.
Der Einsatz unseres Wissens, unseres Verstandes und unserer Vernunft, um zu einem Urteil zu gelangen, das wahr ist, ist gleich unserem Arm, den wir ausstrecken, um nach einem Apfel zu greifen, der an einem Baum wächst, den wir eingepflanzt haben. Genauso wie die Nahrungsaufnahme und die Nahrungsvorsorge ist das Erkennen von Kausalität und der Wille, nach Erkenntnis, Realität und Wahrheit zu suchen, unser Sein, unsere DNA, unsere Identität, unser „Ich“.
Wir beobachten, dass die Entwicklung der Gesellschaft und die zunehmende Verbreitung von Glaubenswissen auf das Engste miteinander verbunden sind. Denken wir hier nicht nur an Bücher, Filme, Serien, Wikipedia und Social Media. Kein wissenschaftlicher Fachbereich, kein wissenschaftliches Studium, keine wissenschaftliche Forschung kommt ohne den umfangreichsten Einsatz von Glaubenswissen aus. Hingegen nimmt die Aufnahme, das Vorhalten und das Abrufen von Erfahrungswissen im institutionalisierten Wissenschaftsbetrieb — selbst in den sogenannten Naturwissenschaften — heutzutage eine überaus untergeordnete Rolle ein, so dass man es kaum übel nehmen kann, von modernen Wissenschaften als Glaubenswissenschaften zu sprechen, auch wenn im allgemeinen Sprachgebrauch Glaube und Wissenschaft als Gegensätze aufgefasst werden, in der irrigen Annahme, dass der Glaube einen Gegensatz zur Wissenschaft darstelle in der Weise, dass er der Vernunft unzugänglich wäre. Das ist natürlich nicht der Fall. Niemand kann bezweifeln, dass aus Erzählungen im weitesten Sinne übernommenes Wissen wahr und eine treffende Darstellung der Realität sein kann.
Zur Klarstellung ein Beispiel: Dass der Tod ein Ende unseres Seins bedeutet, ist ein Wissen, dass vor dem Tode reines Glaubenswissen bleiben muss und niemals Erfahrungswissen werden kann. Ein Urteil, das als Grundlage ein solches Wissen hat, kann logische Wahrheit besitzen, insofern als dass es nach den Gesetzen der Logik aus der Prämisse des Ende des Seins mit dem Tode gefällt wurde. Ob es tatsächlich wahr ist, ist damit nicht festgestellt, denn diese Feststellung hängt davon ab, ob das Sein mit dem Tode tatsächlich endet oder nicht. Diesen Fall haben nicht wenige vor Augen, wenn sie den Begriff Glauben denken. Sie denken dann an Glaubenswissen, das zu Lebzeiten niemals Erfahrungswissen werden kann. Tote schreiben keine Bücher. Und selbst wenn, enthielten sie nur Glaubenswissen für die Lebenden.
Wenn notwendig, lässt sich der Unterschied begrifflich durch unerfahrbares Glaubenswissen und erfahrbares Glaubenswissen oder ähnlich kenntlich machen. Für das Verständnis einer empirischen Wissenschaft als einer Idealvorstellung, deren Anspruch es ist, ihre Erkenntnisse und Urteile stets auf reproduzierbares Erfahrungswissen als Grundlage zurückführen zu können, ist diese Unterscheidung zentral. Für den modernen Wissenschaftsbetrieb unter der Bedingung eines enormen Finanzierungs- und Produktionsdrucks scheint mir die Unterscheidung eher unwichtig geworden zu sein. Was tun, wenn keine neuen Erfahrungen gemacht werden? Scheitern eingestehen, Fachbereiche einstampfen, Menschen entlassen? Unter Produktionsdruck führen Ideen und Spekulationen zuweilen ein reges Eigenleben und entwickeln sich zu wundersamen und manchmal zu monumentalen und teils beängstigenden Konstrukten, wenn keine Erfahrungen sie erden.
Die allgemein als empirisch bezeichnete Forschung heutzutage erliegt allzuoft der Versuchung und dem Trug, das Fehlen von reproduzierbaren Erfahrungen durch das kunstvolle Konstruieren immer komplexerer empirischer Methoden und deren Anwendung zur Unterfütterung ihrer Urteile und Schlussfolgerungen zu kompensieren. Nicht selten wird heutzutage demjenigen Urteil das größte Gewicht eingeräumt, zu dessen Hervorbringung die komplexeste Methode Anwendung und unverständige Bewunderung fand. Die Methoden und die Urteile sind neu, die „natürlichen Experimente“ aber unreproduzierbar und die zur Verfügung stehenden „zufälligen Beobachtungen“ immer noch äußerst lückenhaft. Das Gewicht der Methode für die Überzeugung durch ein darauf basierendes Urteil scheint lediglich noch von dem Gewicht der Geldmittel, die ein Urteil verspricht, übertroffen zu werden. Dann kommen noch Eitelkeiten, Hierarchien, Karrieren und politische Abhängigkeiten hinzu. Wo werden unter diesem ganzen Gezeter im Wissenschaftsbetrieb noch erfahrbare Wahrheiten gefunden? Und wie erst muss es mit der Suche nach erfahrbarer Wahrheit in einem high-tech Bioengineering Unternehmen aussehen, in das Milliarden investiert wurden? Ist es nicht viel einfacher, kostengünstiger und investitionssicherer, eine „Wahrheit“ durch geschicktes Marketing zu erfinden als tatsächlich erfahrbare Wahrheit beschwerlich zu suchen. Prophezeiungen, die sich durch das Aussprechen der Prophezeiung selbst erfüllen, sind der Traum jedes Managements.
Wir beobachten, dass das Glaubenswissen in den Menschen ebenso wie durch sie als Grundlage für gesellschaftliche Zustände und Entwicklungen bedingt durch technische, institutionelle und organisatorische Innovationen der Wissensvermittlung stark überproportional im Verhältnis zum Erfahrungswissen zugenommen hat und diese Zunahme sich fortwährend beschleunigt. Wir beobachten, dass der Entscheidungsdruck und die Entscheidungsangst bedingt durch die Zunahme des Glaubenswissens ebenfalls zunimmt und unserer Vernunft, unserem reflektiertem Denken Raum und Zeit nimmt, die zur ihrer Entfaltung notwendig sind. Benommenheit der Vernunft bis hin zur vollkommener Erstarrung des Verstandes sind die Folgen. Die Begriffe numb und tharn in zeitgenössischen Liedern und Erzählungen sind Ausdruck dieser gesellschaftskritischen Zustände.
Wir nehmen schockiert zur Kenntnis, dass diese Zustände gezielt hervorgerufen und gnadenlos ausgenutzt werden. Mit großer Sorge beobachten wir die Verbreitung von Glaubenswissen mit dem Zweck, Angst und Unsicherheit zu erzeugen. Die Verbreitung von Glaubenswissen über das „Corona-Virus“ und die „Corona-Pandemie“ unter maßgeblicher Beteiligung der Regierung, des Staates und der Leitmedien fällt in diese Kategorie. Als übergeordnetes Motiv derartiger Aktionen identifizieren wir die immer verzweifelteren Versuche derjenigen, die über Macht verfügen, ihre Machtposition zu sichern.
Wir erleben die politischen Struktur in Deutschland in vielerlei Hinsicht als Management-Demokratie, in der das „Management“ den Bürgern als Ausrede dafür dient, ihren Verstand und ihre Vernunft auf Sparflamme laufen zu lassen. Es ist so bequem, sich dem Glaubenswissen, den Marketingslogans, den Buzzwords und den Headlines hinzugeben und sich wohlig in die etablierte Macht- und Ordnungsstruktur einzufügen und auf die “dummen” Nichtkonformisten und Dissidenten herabzuschauen, ohne sich mit ihren Argumenten auseinanderzusetzen (“comfortably numb”). Es ist so bequem, den Wunsch der Bürger nach Bequemlichkeit zu erfüllen.
Doch Realität und Notwendigkeit brechen sich Bahn und stören die Harmonie. Immer mehr Bürger leiden unter der Abnahme ihres Realeinkommens. Der Staat kann seinen derzeitigen Aufgaben nur noch durch eine massive Schuldenaufnahme nachkommen, die die Einkommensverluste der Bürger in Zukunft nur noch weiter in die Höhe treiben wird. Die Suche nach Sündenböcken zum mentalen Spannungsabbau und Erhaltung des eigenen Selbstbewusstseins wird angesichts der massiven ökonomischen Probleme immer drängender vorangetrieben, genauso wie die Suche nach neuen Marketingslogans und Buzzwords: „Die Demokratie muss gegen ihre Feinde verteidigt werden!“
Ist es demokratisch, wenn große Medien-Influencer-Unternehmungen von Regierung und Investoren große Geldmengen erhalten, um regierungs- und investitionskonformes Glaubenswissen zu verbreiten? Ist es demokratisch, wenn Verwaltungsgerichte und Amtsgerichte ihre Urteile nach Meinungen von regierungsgebundenen Behörden und “Experten” fällen? Ist es demokratisch, wenn Parteien Bürger systematisch im Wahlkampf belügen? Ist es demokratisch, wenn bereits in Schulen junge Menschen zur Macht- und Regierungskonfomität erzogen werden?
Eine Gesellschaft und ihre Führung, die versucht, ein gesellschaftliches Fundament auf unerfahrbarem Glaubenswissen und sinnentleerten Begriffen zu schaffen, baut auf Sand. Dann heißt es ständig Glaube hier, Leugner da, Konformität hier, Apokalypse da, Solidarität hier, Spaltung da. Glaubenskriege sind das Merkmal einer dysfunktionalen Gesellschaft, die sich im Prozess der Auflösung befindet, weil Erfahrungswissen durch Glaubenswissen sowie Verstand und Vernunft durch (mediale) Offenbarung substituiert wurden. Dass dieser Prozess durchaus dramatische Formen annehmen kann, darauf wurde bereits vielfach hingewiesen.
Der größte Schritt der dysfunktionalen Gesellschaft auf dem Weg der Auflösung ist die Etablierung einer militärische Kommandostruktur zur Erhaltung der Machtstruktur, flankiert von einer staatlichen Plan- und Kriegswirtschaft, wie sie spätestens seit 2014 und besonders in der Corona-Zeit durch repressive Maßnahmen und nun weiter mit einer Politik der “Kriegstüchtigkeit” und der „Sondervermögen“ in Deutschland etabliert wird. Um diesen Prozess der vermeintlichen Machterhaltung am Laufen zu halten, braucht es ein starkes und glaubhaftes Feindbild, in das hinein alle vermeintlichen Ursachen der Dysfunktionalität projiziert und damit die tatsächlichen Ursachen verschleiert werden. Was in der Corona-Zeit gegen einen unsichtbaren Feind eingeübt wurde, scheint nun gegen alle Vernunft und gegen alle Hoffnung weiter vorangetrieben zu werden.
Was tun in dieser Situation? Abstumpfen? Erstarren? Den Kopf einziehen und warten, bis der Sturm vorüber ist, und dann die Scherben aufkehren?
Dieses Vorgehen kann sich in einigen Fällen durchaus als gute Überlebensstrategie erweisen. Sie hat jedoch zur Folge, dass das Management schalten und walten kann, wie es ihm genehm ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein anderer Weg für eine vernünftige Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik für alle Bürger eingeschlagen wird, sinkt gegen Null. Unter Berücksichtigung der aktuellen geopolitischen Entwicklungen bleibt als Resultat dieser Strategie nicht mal das Überleben wahrscheinlich.
Eine andere Strategie ist es, Widerstand gegen all das derzeit dem Zeitgeist entspringende Glaubenswissen und den Unverstand und die Unvernunft zu leisten, die uns zu ersticken drohen — salopp gesagt: sich kleine oder große Keimzellen wachsen zu lassen.
In diesem Sinne …
Reden Sie, werte Leser! Reden Sie einfach weiter! Kommunizieren Sie! Kritisieren Sie! Schreiben Sie! Hauen Sie einfach mal raus, was sie denken! Niemand hat mehr Recht dazu als Sie! Geben Sie ihre eigene Theatervorstellung! Kommen sie ins Gespräch! Gehen Sie raus! Machen Sie Erfahrungen mit ihren eigenen Sinnen!
Sie werden überrascht sein, werte Münsteraner, wieviel mehr Sie durch Ihre Erfahrung in der Welt erkennen können als durch Ihren Glauben!
Herzliche Grüße,
Matthias Hartermann