Rezension zu Emmanuel Todds „Der Westen im Niedergang“
Das jüngste Werk des französischen Historikers Emmanuel Todd sorgt erneut für Furore. Weil er den Niedergang des Westens postuliert. Noch deutlicher wird er im Untertitel „Ökonomie, Kultur und Religion im freien Fall“; schon diese Verknüpfung ist eine Reverenz des Autors an den deutschen Nationalökonomen und Soziologen Max Weber (1), auf den er wiederholt zurück kommt. Dabei ist der westliche Niedergang für Emmanuel Todd auch, aber nicht primär, das Ergebnis des Aufkommens neuer globaler Player, wie sie sich vor allem in den BRICS-Staaten dokumentieren. (2) Sondern er ist vor allem auf interne Faktoren in den westlichen Staaten zurück zu führen. Die Krise des Westens ist hausgemacht; die hierzulande so verbreitete Benennung äußerer Krisenursachen wie das Handeln von Wladimir Putin oder Xi Jiping oder die Floskel vom russischen Angriffskrieg greifen deshalb viel zu kurz und das macht eine funktionierende Konfliktlösung unmöglich. Dafür müssten die westlichen Eliten die eigenen Schwächen wie die Stärken Anderer sachlich anerkennen und dazu weiter unten mehr.
Bei der Analyse des Gegenstandes geht Todd sachlich vor. Die verschiedenen Facetten leuchtet er in elf Kapiteln plus der Schlussfolgerung aus dem Geschriebenen plus einer Nachbemerkung plus einem Nachwort zur deutschen Ausgabe vom Juli 2024 aus. Gemäß der Natur des aktuellen Konfliktes beginnt er mit Überlegungen zur russischen Stabilität (Kapitel 1) und zum ukrainischen Rätsel (Kapitel 2). Das setzt er fort über Betrachtungen zu diversen westliche Staaten wie Großbritannien (für Todd nur noch wenig mehr als ein failed state), Frankreich und zu den skandinavischen Ländern. Den USA widmet er die Kapitel 8 bis 10, dieses erklärt die „Washingtoner Clique“, genauer, deren nicht mehr vorhandenen analytischen Fähigkeiten. Um sich im elften Kapitel der Frage zu stellen, warum sich der Rest der Welt (gemeint sind alle Staaten außerhalb der „westlichen Wertegemeinschaft“) mehr oder weniger offen für Russland entschieden hat. Allein dieser Ansatz liegt diametral zum vom hiesigen Mainstream gezeichneten Bild. Es ist diese Unterstützung, die Russland für Todd jetzt schon zum Sieger in der Ukraine macht. Egal, wie lange die Kämpfe noch andauern. Die Begründung des Historikers überzeugt: der globale Süden und Osten begreifen die Russische Föderation als im stellvertretenden Kampf gegen die Mächte, von denen sie seit Jahrhunderten mit Ausplünderung, Kriegen und Putschen überzogen wurden. (3) Kürzer formuliert, verlor dort der Westen Reputation und Respekt. Seine Ausführungen illustriert der Autor mit Klassikern des politischen Denkens von der griechischen Antike wie Aristoteles bis zum zeitgenössischen US-Politologen John J. Mearsheimer, dessen nüchterne Analysen Todd im Übrigen sehr schätzt. Der umfangreiche Quellenapparat lässt ergänzend keine Wünsche offen.
Als Historiker verbindet Todd Geopolitik und Geschichte, knüpft er an die Muster der Vergangenheit an mit durchaus prophetischen Worten. „Die Vereinigten Staaten werden diesen Krieg verlieren, weil ihre industriellen und militärischen Mittel gegen ein wieder erstarktes Russland unzureichend sind. Die bevorstehende Niederlage der Ukraine sowie die Erniedrigung des Pentagons und der NATO werden die Frage nach den künftigen Beziehungen zwischen Deutschland und Russland wieder aufkommen lassen. Dann wird Deutschland zwischen einem endlosen Konflikt und dem Frieden mit Russland wählen müssen. Für Deutschland ist dies ein sehr altes Thema.“ (Umschlag). In dieser Prägnanz wird auch klar, dass und warum Emmanuel Todd global als einer der renommiertesten Historiker gilt. Seine bereits 1976 erfolgte Vorhersage des Zusammenbruches des sowjetischen Staatensystems aus demografischen Gründen war kein Zufallstreffer sondern begründete eine lange Reihe ausgezeichneter Publikationen bis hin zum vorliegenden Buch.
Der Erfolg ist auch formalen Aspekten geschuldet. Schnell merkt der Leser, dass der Autor kein „Nur-Historiker“ ist. Seine Analysen speisen sich neben den historischen Belegen aus zwei weiteren Quellen. Erstens ist Todd auch studierter Anthropologe („Menschenkundler“) mit einem spezifisch präzisen Blick auf die handelnden Völker und Personen als Subjekte der Geschichte. Zweitens leitet er seine Schlussfolgerungen aus der Betrachtung spezifischer Familienstrukturen in den jeweiligen Weltgegenden ab. Familien bilden das Grundgerüst jeder Gesellschaft und deren Strukturen finden sich zwangsläufig auch im politischen Überbau wieder. (4) Aus diesem Mix ergeben sich maßgeblich die Originalität und Präzision seiner Gedanken jenseits jeder Nur-Historie. Diese muss der Leser nicht in jedem Detail annehmen, um den Grundaussagen zuzustimmen.
Bei alledem fällt die Sprache des Autors angenehm auf. Sie ist keine des Elfenbeinturms sondern nahe dran am Volkssprech. Sie ist unverblümt und ohne Respekt vor Autoritäten. Sie ist beinahe schon ein belletristisches Lesevergnügen. Todds Wissen will sich mitteilen; keine abgehobene Fachsprache verhindert die Erkenntnisse. In dieser Unverblümtheit vermag der Leser Todds Ausführungen auch deshalb besser folgen weil sie das Denken „normaler Leute“ bedient. So kommt man in die Köpfe der Leser hinein und erntet Bereitschaft zur Zustimmung zu den vorgetragenen Gedanken.
Der zentrale Begriff in Todds Analyse ist jedoch der des Nihilismus. Im 20. Jahrhundert verbreitet, war es um ihn in den letzten Jahren ruhig geworden. Stattdessen galt der Slogan vom Ende der Geschichte des amerikanischen Politologen Francis Fukuyama (geboren 1952, 5) als Grundprägung einer unipolaren Welt: die westlichen Werte, speziell die der US-Eliten, bestimmten, wo es lang geht. Doch das ändert sich gerade hin zu einer multipolaren Welt mit mehreren weiteren Kraftzentren wie unter anderem China, Indien und Russland. Die westlichen Eliten haben dieser Entwicklung nichts entgegenzusetzen und die Frage ist die, ob sie es akzeptieren oder versuchen, ihre Dominanz militärisch zu verlängern. Speziell in der letztgenannten Fraktion fällt dabei die Abwesenheit selbst der tradierten westlichen Werte auf. Stattdessen herrscht eine intellektuelle und ethische Leere, die nur noch den Glauben an sich selbst, das heißt, an das eigene Fortkommen kennt. Deutlich markiert wird das auch in der Bundesrepublik, wo es für ein Ministeramt keiner fachlichen Befähigung mehr bedarf (Baerbock, Habeck, Klingbeil und weitere). Was in der deutschen Hauptstadt vielleicht noch verschmerzbar ist, sieht in den Kapitalen wie London, Paris und Washington anders aus. Immer noch träumt man dort von der vergangenen Größe und ist man bereit, jedes Mittel, egal, welche Folgen sich daraus auch für die eigene Bevölkerung ergeben, einzusetzen. Der Gedanke vom Einsatz westlicher Bodentruppen in der Ukraine steht dafür stellvertretend. Es ist die Abwesenheit jedes Verantwortungsgefühls und der Fähigkeit, die Konsequenzen zu bedenken. Eben Nihilismus. Dabei ist dieser nicht die Folge, sondern einer der Ursachen und auffälligsten Begleiterscheinungen des westlichen Niedergangs.
Ein Nebengedanke sei hier noch genannt. Die österreichische Kabarettistin Lisa Eckhart formulierte vor Kurzem, dass Zuwanderer ihre Religion nach Deutschland gezwungenermaßen mitbrächten, weil es hierzulande keine mehr gebe. Was Eckhart kabarettistisch verpackte, hat einen ernsten Kern. Denn welche Kraft eine zunehmend nihilistische Gesellschaft im Zeichen der „Selbstverwirklichung“ aka Sinnentleerung wie die deutsche dem Wertegerüst islamischer Einwanderer noch entgegen setzen kann, mag der geneigte Leser für sich selbst beantworten.
Dieser Nihilismus verbindet sich für den Autor mit einer intellektuellen Leere. Weite Teile der westlichen Eliten sind nicht nur nicht willig, sondern auch nicht mehr fähig zu sachlichen Analysen. Sei es die Situation in der Ukraine, seien es andere globale Konflikte. Die andere Seite wird nicht verstanden und so sind sie unfähig zum Finden von Lösungen. Das betrifft nicht nur den Frieden in der Ukraine sondern auch innenpolitische Aspekte. Es ist ein permanentes Weiter so! In einer sich massiv verändernden Welt. Das Ergebnis dieser Unfähigkeit ist vorhersehbar aber austragen werden es zuerst die eigenen Bevölkerungen müssen. (6)
In der Konsequenz verschwindet mit dem Aufkommen des Nihilismus auch die Religion. Das Verschwinden der Religion wird in drei Abschnitte unterteilt. Zuerst ist das religiöse Leben noch intakt. Das England des Manchesterkapitalismus steht für Todd beispielgebend. Es ist die Zeit, in der die westlichen Imperien entstanden. Zugleich verweist er auf den Umstand, dass mit Ausnahme der Franzosen nur protestantische oder kalvinistisch geprägte Gesellschaften große Kolonialreiche aufbauten. Die protestantische Prädestinationslehre erwies sich als Motor der westlichen Expansion – der Hinweis knüpft unmittelbar an Max Webers Hinweis auf den Zusammenhang zwischen Protestantismus und Kapitalismus an. Nach dem Zweiten Weltkrieg treten die westlichen Gesellschaften dann in den zweiten Abschnitt ein. Todd beschreibt ihn als Zombiecharakter: die Kirchen leeren sich allmählich aber viele religiöse Bräuche sind noch lebendig wie Hochzeit, Taufe sowie das Begehen christlicher Feiertage und sei es nur als willkommene Freizeit. Den dritten Abschnitt setzt der Autor ab etwa dem Ende des Kalten Krieges an. Dem scheinbaren Sieger im Kampf der Systeme kommen allmählich die religiösen und damit auch die ethisch-moralisch Grundlagen abhanden. Was sich an der Oberfläche als Liberalität und Freiheit des Einzelnen manifestiert, ist im Kern eine Schwächung des Solidargedankens und damit der betroffenen Gesellschaft.
Eine weitere, in Zusammenhang mit der „Selbstverwirklichung“ enorm wichtige, Erkenntnis sei deshalb genannt: “Eine der großen Illusionen der Sechzigerjahre…bestand darin zu glauben, dass der Mensch, ist er erst vom Kollektiv befreit, wachsen würde…Es verhält sich genau umgekehrt. Der Einzelne kann nur innerhalb und durch eine Gemeinschaft wachsen. Allein ist er von Natur aus dazu verdammt, kleiner zu werden. Jetzt, da wir als Menge von metaphysisch-schöpferischen und abgeleiteten, von kommunistischen, sozialistischen oder nationalen Glaubensmustern befreit sind, erfahren wir eine Leere und schrumpfen. Wir werden zu einer großen Menge mimetischer Zwerge, die nicht mehr wagen, selbst zu denken – sich allerdings als ganz genauso intolerant erweisen wie die Gläubigen von früher.“ (Seite 139) Auch diese Medaille namens Selbstverwirklichung hat zwei Seiten; es ist unter anderem den Teilnehmern der bunten CSD-Umzüge immer wieder ins Gedächtnis zu rufen. Es ist eine grundsätzlich Frage und diese lautet anders formuliert: für welche Werte sollen junge Menschen denn im Ukrainekrieg sterben sofern westliche Bodentruppen eingreifen? Wenn die tradierten Werte wie Familie, Geschlecht, Nationalstolz und -kultur nicht mehr gelten sollen? Der herrschende Nihilismus ist es jedenfalls nicht. So sei nochmals daran erinnert, dass der Niedergang des Westens für den Autor zuerst ein Resultat interner gesellschaftlicher Prozesse ist und weniger (aber auch) eines der Völker gegen die westliche Ausbeutung und Bevormundung. Dabei steht Russland im Moment an vorderster Stelle als eine der Parteien im Stellvertreterkrieg in der Ukraine.
Es ist ein Krieg, der in sich die Gefahr einer Eskalation bis hin zu einem nuklearen Inferno birgt. Todds Buch ist ein schlussendliches Plädoyer für eine von unten kommende europäische Friedensbewegung. Denn es läuft auf einen weiteren Konflikt zwischen den Völkern und den (globalistischen) Eliten hinaus. Ganz am Ende seines Buches formuliert der Historiker einmal mehr in wünschenswerter Deutlichkeit: „Ein militaristisch-oligarchisches Prinzip wird sich immer deutlicher einer pazifistischen Volksvertretung (in welcher Form auch immer) entgegenstellen. Da sich die Kriegsentwicklung beschleunigt, bleibt den europäischen Oligarchen nur noch sehr wenig Zeit,um ihre Völker, wenn sie es denn wollen, in einen Krieg zu ziehen der kein Ende kennt, außer das von Europas Wohlstand.“ (Seite 336)
Michael Heß
(1) Max Webers (1864 bis 1920) Kerngedanke als „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ erschien als zweiteilige Artikelfolge in der sozialpolitischen Zeitschrift „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ (Tübingen) im November 1904 und Juni 1905. Kurz nach Webers Tod im Juni 1920 erschien eine überarbeitete Fassung des Werkes. Weber gilt neben Georg Simmel (1858 bis 1918) und Ferdinand Tönnies (1855 bis 1936) als einer Begründer der deutschen Soziologie. Auf Weber geht übrigens auch die heute populäre Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik zurück.
(2) Das Kürzel BRICS vereint die englischen Anfangsbuchstaben der Gründerstaaten Brasilia, Russia, Indien, China und 2010 South Africa. Ziel ist die gemeinsame ökonomische Entwicklung außerhalb westlich dominierter Strukturen wie der Welthandelsorganisation WTO. Nach weiteren Beitritten umfaßt die 2006 gegründete Staatengruppe aktuell zehn Mitglieder. Weitere Staaten des globalen Südens haben ihren Beitrittswunsch geäußert.
(3) Viele Historiker sehen heute den Beginn des Kolonialzeitalters in der portugiesischen Eroberung Ceutas im Jahre 1415. Damals war Ceuta einer der Endpunkte des florierenden transsaharischen Gold- und Salzhandels.
(4) Die mittels Transgenderideologie angestrebte Zerstörung traditioneller Familienbilder und Geschlechterrollen erfolgt eben nicht zufällig. An anderer Stelle wirft Todd die Frage auf, wie unattraktiv weltweit westliche Werte und damit Ideologien sind, welche die Dualität von Frau und Mann abstreiten. Für die gesamte restliche Welt ist nämlich genau diese Dualität konstituierend.
(5) Fukuyamas wirkmächtigstes Werk „The End of History and the Last Men“ (deutsch: „Das Ende der Geschichte“) erschien 1992 und geht auf einen bereits vor dem Ende des Kalten Krieges publizierten Artikel in der konservativen Zeitschrift für Außenpolitik The National Interest (Washington) zurück.
(6) Diese Unfähig- und Unwilligkeit zur sachlichen Analyse der Probleme wird, speziell auf den europäischen Osten bezogen, auch vom in Sankt Petersburg lebenden Journalisten Thomas Röper thematisiert. Röper gilt heute als einer der besten deutschen Kenner Russlands und betreibt unter anderem den Blog „Anti-Spiegel“.
Emmanuel Todd
Der Niedergang des Westens, Sachbuch, Westend Verlag, Neu-Isenburg 2024
Preis: 28,00 Euro, 350 Seiten
ISBN 978-3-86489-469-5