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Zerbröselnde Gewissheiten: Rezension zu Dirk Hesses Roman „Die Lehrerin“

Das Mädchen Becca lebt in einer Welt zerbröselnder Gewissheiten, die zeitlich nicht allzu fern in der Zukunft liegt. Die Staatsmacht ist zwar noch präsent, erodiert aber sichtbar. Die Betuchten wohnen in abgeschlossenen Wohnanlagen, Parallelgesellschaften sind entstanden. Klimatische Veränderungen erschweren die Situation zusätzlich. Die Temperaturen steigen, die Wälder brennen öfter und die die Versorgung der Bevölkerung mit dem Lebensnotwendigen funktioniert so eben noch. Auf den ersten Blick scheint die Lage noch erträglich aber man schaue besser nicht genauer hin. Um über die eigene Zukunft nachzudenken, sofern es der tägliche Hindernislauf erlaubt. Wer das tut und sich von der staatlichen Propaganda emanzipiert, glaubt entweder gar nichts mehr oder er schließt sich einem der vielen Propheten resp. Sekten an oder er erhebt Gewalt zur Alltagsmaxime. Zur Sicherung des eigenen Seelenheils und auch das ist nichts Neues in Krisenzeiten. Es ist eine Gesellschaft, die im Leerlaufmodus von der Substanz vergangener Jahrzehnte lebt. Neues, eine Verbesserung der Situation gar, ist nicht zu erwarten.

In dieser Welt des umfassenden Verfalls muss sich die Protagonistin Becca mit ihrem Hund Bugler behaupten. Nicht mehr Mädchen und noch nicht ganz Frau. Die Eltern sind längst tot; mit tristen Jobs schlägt sie sich durchs Leben und Partnerschaften. Nur zu dem Polizisten Goran baut sie ein tieferes Verhältnis auf aber Goran wird Opfer der Gewalt und Becca steht wieder alleine im Leben. Etwas Halt geben ihr ältere Verwandte, die ihr ein Abbild besserer Tage zu vermitteln suchen. Das alles mehr oder minder routiniert aber auch ohne Perspektive. Sie fühlt die Leere in sich und sie sucht nach etwas Sinnstiftenden im Leben. Weniger zielstrebig als mehr sich treiben zu lassen aber immerhin: Becca sucht. Über eine Verwandte bekommt sie Zugang zu einem leerstehenden Haus im Wald, das sie in eine Schule verwandelt. Für Kinder in ihrer Umgebung, zu der leider auch eine militante Sekte gehört. Der Konflikt ist unausweichlich, den Becca knapp überlebt. Um danach, mit ihrem bisherigen Leben abschließend, ein neues zu beginnen. Mit Hund und neuem Kameraden. Das offene Ende lässt Raum für positive Gedanken im Kopf des Lesers.

Alles das erzählt der Dortmunder Blogger Dirk Hesse in seinem literarischen Debüt mit ruhiger Feder. Distanziert und beinahe schon lakonisch. Der Handlungsstrang ist linear; es gibt kaum Abschweifungen und Verzettelungen. Das Personentableau ist übersichtlich und die Akteure selbst hinreichend genau beschrieben. Unterm Strich sind es diese Distanz und Direktheit, die dem Text Glaubwürdigkeit bescheren. Immer wieder blitzen Punkte auf, die die gesellschaftliche Situation erhellen. Bezeichnend die Szene, als Becca neben einer Reihe Schützenpanzer entlang fährt. Es sind stählerne Ungetüme, zur Drohung gedacht. Aber sie drohen nur noch den Staatsgläubigen; alle Anderen wissen um die leere Drohung und scheren sich nicht darum. Oder Beccas Zufriedenheit, im Supermarkt noch einige gammelige Zitronen erwischt zu haben. Parallelen zum Auftreten der Staatsmacht heute sind zwangsläufig: brave Bürger hier, Querdenker da und Clans dort. Oder zur noch-Fülle der Auslagen in den Geschäften. Der Gedanke beschleicht, dass das alles schneller vorbei sein könnte als heute noch gedacht. Oder der unaufgeklärt bleibende Raubmord an Beccas Verwandten, die in ihrem Gartenrefugium so etwas wie eine gute alte Zeit lebendig bleiben ließen. Der Mord an den alten Leuten mag als Gleichnis für das Ende der sicheren Gesellschaft stehen, in der wir noch leben.

Denn ebenso unauffällig vollzieht sich der Zusammenbruch der heutigen gesellschaftlichen Ordnung zwischen Clankulturen, ungebremster Migration, Genderwahn, Demos gegen Rechts, dem Verfall der Infrastruktur, einem dysfunktionalen Bildungswesen, zerrütteten Staatsfinanzen und Kriegen gegen nicht willfährige Staaten. Der Staat richtet in Beccas Welt seine letzten Reserven gegen die Schwachen und Wehrlosen, um woanders ständig Terrain aufzugeben. Doch das ist schon heute so. In der Gegenwart des Jahres 2024 heißt das nämlich: Kampf gegen Rechts als konstruierte Rechtfertigung, um auf fast allen anderen Politikfeldern zu versagen. Hesses dystopischer Text mag Fiktion sein. Aber seine Fiktion beschreibt, auf dem Heutigen erkennbar aufbauend, eine wirklich denkbare Zukunft und das macht Angst. Beccas Schicksal zeigt aber auch, dass es bei allen Problemen an jedem Einzelnen liegt, was er aus seiner Zukunft und damit aus der Gesellschaft an sich macht. Aufgeben ist keine Option aber Einzelkämpfertum auch nicht. Noch etwas Schönes zum Schluss: es wird eine Fortsetzung geben, so Dirk Hesse gegenüber dem Autor dieser Zeilen.

Michael Heß

Dirk Hesse
Die Lehrerin, Roman 2021, 229 Seiten, Eigenverlag
ISBN 9-978-3-49037591-3
Preis 9,99 Euro für das Taschenbuch zzgl. Versandkosten, Bezugsquellen können im Internet recherchiert werden; 3,99 Euro für das e-book, über Amazon zu beziehen